DigiKAR: Historische Räume neu denken
Vom „Flickenteppich“ zu multiplen multipolaren Netzwerken
Das Alte Reich ist in der Vergangenheit vielfach in seiner vermeintlichen Unvollkommenheit als „Flickenteppich“ beschrieben worden. Das in den gängigen Geschichtskarten dank entsprechender farblicher Akzentuierung sprichwörtlich buntscheckige Bild einer Ansammlung unterschiedlichster Territorien dürfte das Bild vom Alten Reich bei Generationen geprägt haben. Zentrale Merkmale dieser polygonalen – d.h. auf klar umgrenzten Flächen und Linien beruhenden – Raumvorstellung sind Sicherheit und Eindeutigkeit von Grenzen: Für jeden Punkt auf einer solchen Karte ist die Frage der Zugehörigkeit sicher und eindeutig zu entscheiden, „Drinnen“ und „Draußen“ sind unzweifelhaft fassbar.
Die historische Wirklichkeit stellte sich indessen anders dar: noch bunter, noch verwirrender, noch komplexer, als es die Rede vom „Flickenteppich“ zumindest für moderne Betrachter:innen ohnehin schon suggeriert. Tatsächlich ist der geschlossene Flächenstaat – in der Sprache der Zeit das territorium clausum – lediglich als eine Form der Raumkonstruktion unter vielen zu begreifen; und zwar als eine, die insbesondere der obrigkeitlichen Perspektive Rechnung trägt. Nicht umsonst warnt die jüngere Forschung davor, historische Karten als Abbild historischer Gegebenheiten (über-)zu interpretieren und weist stattdessen auf deren Funktion zur Beanspruchung und Durchsetzung von (eben noch nicht zweifelsfrei durchgesetzten) Herrschaftsansprüchen hin.
Natürlich hat die jüngere Geschichtswissenschaft versucht, diese Unsicherheiten und Mehrdeutigkeiten von Herrschaftsansprüchen angemessen abzubilden, etwa in Form entsprechender Legenden, farblicher Akzentuierungen, Schraffierungen in gedruckten Karten etc. Als Geohumanities-Projekt DigiKAR möchte DigiKAR diesen Weg weiter gehen und unter Nutzung sowohl technologischer als auch konzeptioneller Ressourcen, die die modernen Informationswissenschaften bereitstellen, innovative und anschlussfähige Konzepte der Repräsentation von Pluralität und Konkurrenz von Räumen über die traditionelle kartenbasierte Darstellung hinaus entwickeln. Grundlegend hierfür ist die Abkehr von einem polygonalen zugunsten eines ortsbezogenen Raumverständnisses. In der Digitalen Kartenwerkstatt werden Räume als soziale Konstrukte aufgefasst, die maßgeblich auf Orten beruh(t)en, die sich in einem Koordinatensystem lokalisieren lassen und an die heterogene, divergierende Rechte, Ansprüche und Zugehörigkeiten, etc. geknüpft sein konnten. Auf diese Weise können etwa territoriale Verflechtungen und Unschärfen sowie fluide Grenzverläufe sichtbar gemacht und modellhaft für Forschungsfragen der (frühmodernen) Raumgeschichte erschlossen werden.
Es sind aber nicht bloß die allzu oft konkurrierenden und strittigen Herrschaftsansprüche, die die Eindeutigkeit der polygonalen Darstellung fraglich erscheinen lassen. Neben der maßgeblich in den Kategorien von Landeshoheit und Herrschaft gedachten Fläche bestanden noch viele weitere unterschiedliche rechtliche, soziale, jurisdiktionelle, konfessionelle, ökonomische, fiskalische etc. Bindungen, die auf unterschiedlichen Handlungsebenen eigene, teils überlagernde, konkurrierende Räume konstituierten. Eindeutige Grenzziehungen verblassen im grellen Schein historischer Wirklichkeit. Dieser Befund gilt trotz des – als unvollkommene Grundtendenz verstanden – nicht zu negierenden Territorialisierungsprozesses auch für die Spätphase des Alten Reichs (und wahrscheinlich auch darüber hinaus; man denke etwa an die Krim oder globale Finanzströme, „digitale Nomaden“ etc.). Im frühneuzeitlichen Reich koexistierten verschiedene Grenzen und Räume, die sich als multipolare Netzwerke zwischen verschiedenen Orten aufspannten.
Bei der Auswertung und Visualisierung will DigiKAR jedoch über die Erstellung digitaler Karten hinausgelangen. Um die komplexen Raumstrukturen sowie trans- und interterritoriale Praktiken auf unterschiedlichen Handlungsebenen – auf lokaler, regionaler, territorialer und Reichsebene – abzubilden, werden neben digitalen Karten auch Netzwerkdiagramme und andere nicht-kartographische Darstellungsformen raumzeitlicher Bezüge angestrebt.
Die Arbeit in der Werkstatt: iterativ & experimentell
In der Digitalen Kartenwerkstatt arbeiten unter Federführung des Leibniz-Instituts für Europäische Geschichte Mainz (IEG) Geograph:innen, Historiker:innen und Informationswissenschaftler:innen des Leibniz-Instituts für Länderkunde Leipzig (IfL), des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropafoschung Regensburg (IOS) sowie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) und der École des Hautes Études en Sciences Sociales Paris (EHESS) eng zusammen.
Den Kern des Projekts bilden dabei zwei verschieden ausgerichtete Fallstudien zu den Kurfürstentümern Mainz und Sachsen. In einem experimentellen und iterativen Prozess werden ortsbezogene historische Daten aus unterschiedlichen Quellen erfasst und fachwissenschaftliche Anforderungen formuliert. Dies stellt den Ausgangspunkt sowohl für eine ontologiebasierte Datenmodellierung als auch für die experimentelle Auswertung und Analyse in verschiedenen Repräsentationsformen dar. Das Vorgehen zur Datenmodellierung orientiert sich an der „eXtreme Design methodology“ und ist explizit als iterativer Prozess zu denken, in dem das Datenmodell im Lichte neuer Daten kontinuierlich erweitert, verfeinert und korrigiert wird. Als Ausgangspunkt für die Entwicklung eines projektübergreifenden und auch für andere Projekte anschlussfähigen Datenmodells dienen dabei CIDOC-CRM und CRMgeo. Letzteres ermöglicht etwa die Erfassung von Orten, deren räumliche Ausdehnung nicht exakt ermittelt werden kann. Umgekehrt wird sowohl bei der Datenerfassung auf die Modelle als auch im historiographischen Forschungsprozess auf die experimentell entwickelten Darstellungsformen zurückgegriffen. Letztere begreift DigiKAR nicht bloß als Mittel zur Darstellung und Illustration von Forschungsergebnissen, sondern explizit auch als Werkzeuge im Forschungsprozess, die etwa neue Perspektiven auf vermeintlich Bekanntes eröffnen und (ganz) neue Fragen aufwerfen.
Die Probe aufs Exempel: Fallstudien zu Kurmainz und Kursachsen
Die Datenbasis für DigiKAR liefern zwei unterschiedlich ausgerichtete historische Fallstudien zu den Kurfürstentümern Mainz und Sachsen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie Bewegungen von Personen, Dingen und Ideen nicht nur als physische Mobilitätspotentiale in komplexen Räumen verstehen, sondern auch hinsichtlich ihrer Zugehörigkeit zu verschiedenartigen, teils konkurrierenden Sozial-, Rechts- und Herrschaftsräumen des Reichsverbands ergründen. Zudem evozieren beide Fallstudien Fragen nach dem Umgang mit einer heterogenen, inkonsistenten, unvollständigen und teils widersprüchlichen Datenbasis.